Stadtperipherie(n) Seestadt – eine Bestandsaufnahme – Interview Nr. 1

Neben der visuellen Recherche in der Seestadt, werden Interviews mit verschiedenen Akteur_innen geführt, die unterschiedlichen Verhältnis zu Seestadt haben. Mein Gesprächspartner im ersten Interview ist Reinhold Zisser, Künstler und Initiator der Notgalerie und “Kunstland Nord”.

Aspern Seestadt, 04.06.2020

VG.: Hallo, ich sitze gemeinsam mit Reinhold Zisser in der Notgalerie, hier in der Seestadt. Meine erste Frage an dich wäre – was ist dein Bezug zu Seestadt?

RZ.: Hallo Vasilena! Ich habe seit 2017, hier in der Seestadt am Nordende, die Notgalerie. Die Notgalerie ist eine ehemalige Holzkirche. Das ist ein Projekt, das 2015 begonnen hat und wo in 2017 das gesamte Gebäude in Einzelteilen hier zusammengebaut wurde. Seitdem befindet sie sich auf einem der Hügel am urbanen Feld. Das ist ein künstlich angelegter Eventplatz, der eigentlich ein bisschen Alibi-Funktion hat, um soziales Geschehen zu ermöglichen, an einem Ort, der eigentlich eine große Baustelle ist. Die Notgalerie ist eigentlich ein Hybrid aus einer Installation, einem Kunstobjekt und einem funktionierenden Ausstellungsraum. Das ist ein bisschen das Zentrum von diesem Veranstaltungsbereich, der sich über die letzten drei Jahre entwickelt hat.

VG.: Das Projekt „Kunstland Nord“ hast du auch hier, auf diesem großen Areal begonnen. Erzählst du etwas über die Strategien, die du als Initiator, bzw. die von dir eingeladenen Künstler_innen angewandt haben, um den Raum anzueignen?

RZ.: Ich muss grundlegend einwenden, dass der Aspekt der Aneignung, das Schaffen von einem Parallelraum, von Anfang an in dem Projekt eine Rolle gespielt hat. Auch schon am ersten Standort der Notgalerie, war es eine Besetzung von einem 4.000 m2 großen Grundstück, dort, wo diese alte Holzkirche stand, eine Strategie der räumlichen Aneignung und der Kreation von einem Präsenz im Raum, die sich in einen Raum einschreibt. Davor war es eine leerstehende Fläche mit einer verlassenen Holzkirche und niemandem war klar, was das bedeutete, eigentlich. Hier ist es ein Ort, wo auf einem riesigen Areal von 1 Mio m2 eine Satellitenstadt über einem langen Zeitraum entsteht. Derzeit bleibt es unklar – ist es hier eine Baustelle, ein Veranstaltungsort; ist das ein Erholungsgebiet, sind das agrar-wirtschaftlich genutzten Felder, die Einschreibungen verändern sich ständig und schnell.



VG.: Gibt es konkrete Beispiele von Projekten, die mit der Logik der Aneignung gearbeitet haben?

RZ.: Es gab 2017 eine Arbeit von Rainer Stadlbauer, ein Display mit dem Namen „Plan Brut“, das über eine 30 Meter Länge hier Vorort installiert wurde. Es wurde einen eigenen Fahnenmast errichtet und wechselhaft von Künstler_innen, die Fahnen gestalten, bespielt. Zumal ist ein Fahnenmast ein Symbol für eine Ortseinnahme, der eigentlich ein Besitzanspruch beinahe darstellt.
In 2019, aufgrund von diesen ganzen Arbeiten und vom Engagement von vielen Künstler_innen, die eine Präsenz entwickelt haben, hatte die Seestadt die Idee uns oder mir die Möglichkeit zu geben den kompletten Brachraum, dieses große, unklare Areal, was über eine halbe Mio m2 hat, mit Kunst – Installationen, Performances, zu bespielen. Das war eine riesige Herausforderung, weil de facto kein Geld dafür vorhanden war. Ich bekam also die Möglichkeit das Areal mit Kunst, Kultur zu bespielen, aber um die Finanzierung des Vorhabens musste ich mich selbst kümmern. Es war mit viel Arbeit trotzdem möglich, mit über 15 Künstler_innenpositionen etwas zu entwickeln. Am Anfang war es eine Behauptung, ich nannte es „Kunstland Nord“, es war ein erfundener Name, der zumindest mit dem Namen das Areal quasi beansprucht, wenn man es „Kunstland“ nennt und „Nord“, weil wir hier im Norden von diesem Gebiet sind. Begonnen hat es mit einer Ausstellung im Künstlerhaus, im Rahmen derer ich nur für einen Tag lang Arbeiten auf diesem riesigen Areal inszeniert habe. Es ging auch darum das Prekäre, die Unmöglichkeit ohne finanzielle Mittel, Kunst im öffentlichen Raum zu machen, zu thematisiert. Es wurden teilweise wertvolle Ölbilder gezeigt, Arbeiten, die eigentlich nicht für den freien Raum gedacht sind. Es ist nicht nur teuer, große Arbeiten im öffentlichen Raum zu machen, es ist teurer, wenn sie mit der Umwelt konfrontiert sind. Die Problematik haben wir, bei unserem gemeinsamen Projekt hier gesehen, wie allein schon Plakate, Bilder, die im Freien nach einem Sturm kaputt werden. Je weniger Budget man hat und je schlechter die Materialien sind, umso mehr von der eigenen Zeit investieren muss. Das sind Dinge, die ich und alle Künstler_innen, die hier beteiligt sind, in diesem Prozess lernen. Es ist ein gewisser Erfahrungsprozess, der hier stattfindet.

Führung durch Notgalerie Kunstland Nord, Mai 2019, (c) Vasilena Gankovska

VG.: Du hast von diesem Areal gesprochen, das du zur Verfügung gestellt bekommen hast, das sind diese 700 000 m2, vom Seestadt–Teil, den mich auch besonders interessiert, weil ich da einerseits einen Zwischenraum sehe, zwischen dieser U-Bahn-Station und dem See, und etwas, was ziemlich flexiblen Charakter hat. Gleichzeitig ist das ein typisches Wasteland, wo es alles Mögliche zu geben scheint, aber was eigentlich sukzessiv mehr und mehr reguliert wird.

RZ.: Ich muss hier ergänzen, dass in dieser Zurverfügungstellung dieser 700 000 m2 ich oder wir Künstler_innen, in einer Kette von Personen, die mit diesem Raum arbeiten, oder in dieser Fläche involviert sind, an aller letzten Stelle kommen.
Einerseits ist das ein Gebiet, wo in 10 Jahren eine komplette Satellitenstadt stehen wird. Ursprünglich hat man gedacht, man lässt diesen Bereich schön als Wasteland, als wilde Natur, bis der Bau beginnt. Aufgrund von Erfahrungswerten, die in einem anderen Wiener Stadtteil gemacht wurden, fiel die Entscheidung das Gelände zu Feldern umzuwidmen. So wurden die Parzellen mit landwirtschaftlicher Nutzung bestellt – eine ökonomische Effektivität, die diesen Bereich zu landwirtschaftlichen Parzellen widmet, die eigentlich zukünftige Baufelder für Wohnhäuser sein werden.
Gleichzeitig hat man das Gefühl es kann ein Nah-Erholungsgebiet sein, ein Unort, der für die hier lebenden Seestädter_innen wie ein großer Park ist. Auf der anderen Seite ist es bereits eine Baustelle, wo Teile abgesperrt sind, wo hier Wege sind, die betreten werden dürfen oder nicht. Nebenbei ist es seit 2019 ein Areal für Kunst im öffentlichen Raum. Wenn man es tatsächlich als Solches betrachtet, als „Kunstland Nord“, würde es die größte Fläche für Skulptur und Interventionen zumindest in Österreich darstellen, glaube ich. Das ist, aufgrund der Hierarchie hier, was und wer Zugriff hat, eine, ein wenig große Behauptung. Tatsächlich war es letztes Jahr so, dass jedes Teilprojekt auf den Feldern mit dem Bauer vorbesprochen werden musste. Es ist eigentlich ein Gebiet, das sein Gesicht sehr schnell verändert. Ich bin hier seit drei Jahren und man merkt, wie die Stadt einem ins Gesicht wächst. Es ist auch klar, dass dieses urbane Areal, wo auch die Notgalerie steht, ein Ablaufdatum hat.

VG.: Wenn du es ansprichst, dass die Notgalerie als Projekt ein Ablaufdatum hat, würde mich Folgendes interessieren: was ist hier in diesem Raum noch möglich, was passiert noch in der Notgalerie in 2020?

RZ.: Die Notgalerie wird im Projektraum zwischen Juli und September 2020 stückweise zerlegt. Die Zerlegung folgt aber keinem ökonomischen Modell, sondern einer Inszenierung in diesem Raum, wo es in diesen Monaten noch von einem funktionalen Gebäude mit einem Innenraum, sich über mehrere Stufen zu einem offenen Bühnenraum transformiert. Das Plateau wird ein Publikumsbereich, während die Terrasse, wo sich jetzt noch die Notgalerie befindet, mehr zu einer Bühne wird. Die Notgalerie wird bis in den Herbst hinein komplett abgebaut und verschwunden sein. Ab dem Zeitpunkt wird diese 200 m2 Holzplattform, die für die Notgalerie damals in 2017 von uns errichtet wurde, übrigbleiben. Unter dem Namen „Plattform für zeitgenössische Kunst“ wird sie zumindest für noch 1 oder 2 Jahre dann als Projekt weitergeführt. Was die Notgalerie, seit 2017 war und als „Kunstland Nord“ bekannt wurde, wird dann diese Plattform sein.

VG.: Was geschieht mit der Notgalerie selbst?

RZ.: Die Notgalerie wird nicht direkt wieder an einem anderen Ort gebaut, sondern als Teil dieser Gesamtinszenierung an alle Künstler_innen, Besucher_innen und interessierte Menschen verteilt, also jede_r übernimmt die Obhut, die Patenschaft für Teile der Notgalerie. Das folgt auch wieder dem Modell, dass die Notgalerie von Anfang an ein institutionskritisches Projekt war, ein Projekt, das hinterfragt hat, ein Skulptur Raum aber auch ein Institutionsraum oder Möglichkeitsraum, der kritisiert hat und die Funktion in Frage gestellt hat, über einem Prozess, indem die Notgalerie selbst als Institution über die Jahre wahrgenommen wurde und selbst eine komische Institution für Kunst und Kultur am Stadtrand, in diesem No-man’s-Land geworden ist. Dieses Geschehen wird nochmal hinterfragt und für mich, um es mit einem Satz zu bringen, die Institution als ein Ort zu hinterfragen und zu kritisieren und mit allen kulturtreibenden Künstler_innen versuchen hinzustreben, dass jede_r Künstler_in und jede soziale Interaktion Heimat für Kunst und Kultur ist. Meine Heimat sind nicht die Institutionen, meine Heimat sind die Kolleg_innen und Freunde und andere Künstler_innen. Die Institution und die Orte, die dafür da sind Kunst und Kultur zu repräsentieren, sollten eigentlich diese Anliegen, diesen Zwecken dienen und nicht umgekehrt. Darin gilt auch dieses Moment zu zeigen, dass die Notgalerie in Einzelteilen zerlegt, ihre Herberge bei den Künstler_innen findet, sie darauf aufpassen und dieser Ort aber durch alle Beteiligten zu etwas neuem wird und ständig in einem Wandlungsprozess steckt.

VG.: Genauso wie die Umgebung.

RZ.: Ja, so wie die Institution selbständig von Künstler_innen geprägt sein sollte und Künstler_innen prägt, um die Institution zu erreichen. Das ist ein ständiger Wandel, der am Anfang durch das Gebäude und durch das Projekt symbolisiert wurde und jetzt weitergeführt, diesem Gebäude selbst widerfährt, um dieses selbst im Prozess verschwindet. Nicht das Gebäude ist das Projekt, sondern das, was passiert. Das Gebäude war, so wie bei einem Einsiedlerkrebs, der auch eine Schale verwendet, eine ideale Schale, eine leerstehende Holzkirche, die ein Raum war, ein Symbol einer Kollektivität, aber zugleich eine verlassene Hülle. Jetzt geht es darum, dass es weitergeht. Das wird das Prozess 2020 und ab 2021 wird hier etwas Neues entstehen und die Notgalerie wird für ein paar Jahren, hoffentlich, in Kellern und Regalen, Ausstellungsräumen und wo auch immer beherbergt sein.

VG.: Vielen Dank!

ICH WERDE NICHT DULDEN DASS IHR MICH ALLEINE LASST
Notgalerie 2020 beginnt am 5. Juli an.
Weitere Infos unter http://www.notgalerie.at